Das Strichmännchen


Direkt zum Seiteninhalt

Der Dialog

Aktuelle Geschichten

Bitte den Bildlauf nach unten scrollen


Die Erde sollte sein Meisterstück werden. Denn mit den anderen Planeten war er nicht zufrieden. Der Mars war zu rot geraten, der Jupiter zu gelb, der Uranus zu blau, und den Ring um den Saturn bekam er auch nicht wieder weg. Für die Erde stellte er sich deshalb etwas ganz Besonders vor. Sie sollte bunt werden: blau, braun, grün, gelb, orange, beige, weiß, rot – eben von jedem etwas.
Die blauen Flächen ließ er Wasser werden – tiefes dunkelblaues Wasser, flaches hellblaues Wasser, Wasser mit Wellen und Schaumkronen obenauf, ruhig dahin fließendes Wasser, warmes Wasser, kaltes Wasser…
Die grünen Flächen, die er verstreut in das weite Blau zeichnete, nannte er Kontinente. Hierauf entstanden Wiesen und Wälder. Die Wiesen sprenkelte er mit bunten und duftenden Blumen. Die Wälder ließ er aus Bäumen mit dichtem Blattwerk entstehen.
Die blauen und grünen Flächen wollte er der besseren Optik wegen deutlich voneinander trennen. Deshalb schuf er leuchtend weiße und gelbe Streifen aus fein gemahlenem Stein, Muschelkalk und Quarz. Er nannte diese Streifen
Strände.
Auch hatten die Strände einen großen Nutzen, wie er erfreut feststellte. Denn dort konnte sich das tobende Wasser beruhigen, ohne bei den Wiesen und Wäldern auf den Kontinenten Schaden anzurichten.

Nach dem letzten Pinselstrich besah er zufrieden sein Werk.
„In der Tat“ dachte er. „Da ist mir in nur fünf Tagen wirklich einmal ein Meisterwerk gelungen. Was es dort alles gibt! Wasser, Land, saftige Wiesen, Wälder, die kleinem und großem Getier bei Wind und Regen Schutz bieten. … Aber irgendetwas fehlt noch. Wenn ich nur wüsste, was es ist! Ich werde noch eine Nacht darüber schlafen. Vielleicht fällt es mir dann ein.“
Und es fiel ihm tatsächlich ein.
Als er erwachte, rief er: „Na klar! Jetzt weiß ich es! Es sind die Strände! Die sind ja noch ganz leer! Dort müssen Wesen sein, die Freude empfinden können ob der Anmut und der Schönheit der Elemente. Es müssen freundliche Wesen sein, denn ich werde sie mit besonderen Gaben ausstatten: Verstand und Intelligenz. Nur so können sie das Geschenk, das ich ihnen gemacht habe, erkennen und pflegen. Mit der Intelligenz sollten sie eines Tages in der Lage sein, Liegestühle herzustellen. Auf denen können sie sich an die Strände legen und sich zugleich am Anblick des Wassers und der Wiesen und Wälder erfreuen.“
Und so setzte er noch einmal den Pinsel an und erschuf uns. Die Menschen.


Weil die Erschaffung des Universums sehr anstrengend war, beschloss er, einen langen und erholsamen Schlaf zu halten. Um sein Werk sorgte er sich derweil nicht. Die Planeten zogen wohlgeordnet ihre Bahnen, ohne sich zu nahe zu kommen. Seine größte Freude – die Erde – erstrahlte im Sonnenglanz. Die ersten Menschen standen staunend an den Stränden. Sie betrachteten ehrfürchtig das Wasser, die Wiesen und Wälder.
Er räkelte sich ein letztes Mal. Dann sank er in den wohlverdienten, Jahrtausende währenden Erholungsschlaf.
Deshalb bemerkte er nicht, dass die Menschen eines Tages mit der Zerstörung seines Meisterwerks begannen: Die grünen Flächen schrumpften zusehends. Das Wasser war an vielen Stellen nicht mehr blau. Der vormals klare Himmel wurde von graubraunem Nebel durchzogen.
Die Menschen setzten sich auch gegenseitig arg zu. Sie bestahlen und betrogen einander. Sie durchzogen die Kontinente kreuz und quer mit unüberwindbaren Grenzen, so dass es vielen von ihnen unmöglich wurde, einen Strand zu erreichen. Sie trachteten einander sogar nach dem Leben, indem sie kleine und große Kriege führten.

In dieser Zeit – die Menschen schrieben das Jahr 2008 – erwachte er aus dem Schlaf.
Er sah, dass die meisten Planeten noch immer wohlgeordnet ihre Bahnen zogen. Nur die Erde – die konnte er nicht erkennen. Dort, wo eigentlich die Erde in der Sonne leuchten sollte, flog ein graubrauner Klumpen durch das All. Erschrocken nahm er das Fernrohr zur Hand. Er betrachtete den Klumpen von allen Seiten. Keine Frage – das war die Erde. Aber sie hatte nahezu jede Schönheit verloren.
Er musste nicht lange suchen, um die Ursache der Misere zu finden. Es waren die freundlichen Wesen, die er am letzten Tag vor dem Jahrtausende währenden Erholungsschlaf erschaffen hatte. Bei näherer Betrachtung der Wesen stellte er fest, dass sie überhaupt nicht mehr freundlich aussahen. Tatsächlich
waren sie auch nicht freundlich.
Die Freude am Wasser und den Wiesen und Wäldern hatten sie vollständig verloren.
Nicht, dass sie keine Freude mehr empfinden konnten: Sie erfreuten sich nun am Leid anderer!
Er war entsetzt und nachdenklich. Und wie er so grübelte, ob er seinen Fehler berichtigen und die Erde von den Wesen befreien sollte, sah er zwischen all den grauen, dahin eilenden, sich anrempelnden, aus dem Weg stoßenden, griesgrämigen Wesen einen Farbtupfer in Rot und Blau – ein Wesen mit einem traurigen, aber freundlichen Gesicht.

Er betrachtete das freundliche Wesen genauer. Es hatte seinen Blick gen Himmel gerichtet und gestikulierte mit den Armen. Es dauerte eine Weile bis er begriff, dass das Wesen mit ihm sprach.
Es sagte, wobei es mit dem Arm eine weit ausholende Geste machte: „Und das hier soll Dein Meisterstück sein? Das ist doch nicht Dein Ernst!“
Er antwortete: „Ehrlich, ich weiß auch nicht, was da schief gegangen ist. Ich wollte es auf der Erde ganz besonders gut machen. Deshalb habe ich euch etwas gegeben, das sonst niemand hat. Verstand und Intelligenz. Und trotzdem seid ihr solche … solche … Einfaltspinsel geworden.“ Das Wesen schnaubte: „Intelligenz und Verstand! Und Du wunderst Dich, dass das dabei heraus kommt! Mit Verlaub … wer ist denn hier der Einfaltspinsel? Das konnte doch gar nicht gut gehen. Denn Du hast etwas Wesentliches vergessen! Vernunft und Mitgefühl.“
„Oh“ sagte er. „Ich dachte, das wären Teile von Verstand und Intelligenz.“
„Nein, offensichtlich nicht“ sagte das Wesen.
„Ja, das sehe ich nun auch“ stellte er fest. „Mein Fehler. Entschuldigung. Ich muss nachdenken, ob ich das jetzt noch ändern kann. Halte durch!“

Er legte das Fernrohr beiseite und verfiel wieder in Grübelei.
Sicher, er konnte die Wesen einfach entfernen. Nichts leichter als das.
Andererseits – es gab auch freundliche Wesen. Eines hatte er immerhin getroffen. Und wo eins war, waren auch noch andere, hoffte er. Er konnte unmöglich die Wesen nach freundlichen und unfreundlichen sortieren. Dafür waren es über die Jahre einfach zu viele geworden. Er musste eingestehen, dass er den Überblick verloren hatte.
Auch hatte er keine Idee, wie er Vernunft und Mitgefühl in die Wesen auf der Erde implantieren konnte. Denn wie er es auch betrachtete – beides wurde von Verstand und Intelligenz hervorgebracht. Oder eben nicht. Einzeln konnte er das nicht vergeben. Da war nichts zu machen.
So beschloss er, vorläufig nicht einzugreifen und alles so zu lassen, wie es war. Vielleicht konnten die wenigen freundlichen Wesen Vernunft und Mitgefühl in den anderen Wesen wecken.
Dann nahm er wieder das Fernrohr zur Hand und richtete es auf den Mars.
Er sagte: „Bei dem nächsten Versuch lasse ich die Wesen auf der Erde einfach weg. … Die kleinen grünen Gestalten auf dem Mars sind mir eindeutig besser gelungen … Und was um Himmels Willen ist
Kirchensteuer?“






Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü